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70 Jahre und kein bißchen leise – wir ham´ noch lange nicht genug

  • Beitrags-Kategorie:Historisch
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Wir werden wieder einmal „rund“. Offizieller Vereinsgeburtstag am 12. April, anno 2023 also das 70jährige Gründungsjubiläum. Aber was heißt schon Gründung. In Dresden war nie etwas einfach, immerhin schmücken wir uns ja in der Vereinshistorie mit dem Pokalsieg von 1952, also ein Jahr vor der Gründung der SGD, errungen unter dem Namen SV Deutsche Volkspolizei Dresden. Dieser Verein, gegründet im Oktober 1948, übernahm 1950 den sportlichen Spitzenplatz in der Stadt, nachdem der Nachfolgeverein des von Hitlers Deutschland protegierten Dresdner Sportclubs (SG Dresden Friedrichstadt) aus ideologischen Gründen der Machthaber in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der jungen DDR wieder in der sportlichen Versenkung verschwand. Nach sowjetischem Vorbild wurde Anfang der 50er Jahre die Sportvereinigung Dynamo als zentraler Sportverband für die inneren Sicherheitsorgane (Polizei, Zoll, Nachrichtendienst/Stasi) gegründet und als Säule des DDR Leistungssports etabliert. Diesem Fakt wurde letztendlich am 12.4.1953 mit der Gründung der SG Dynamo Dresden durch die Fußballer des SV DVP Dresden Rechnung getragen. Jeder Fußballer unserer SGD war danach formell Polizist, angestellt beim Innenministerium der DDR. Läßt man formell besonders die letzten 35 Jahre unserer Vereinshistorie diesbezüglich Revue passieren, böten entsprechende Assoziationen sicher Stoff für unzählige Running Gags… aber dies auszuschlachten bleibt Zeiten vorbehalten, wo Sarkasmus gefragt wäre.

Viele unserer IGSGD Mitstreiter haben als Kinder und Jugendliche noch die wilden und triumphalen 70er und 80er bewußt erlebt und mitgeholfen, das Dynamo-Gen samt dem dazugehörigen Verein erfolgreich in der Bundesrepublik zu etablieren und die Sportgemeinschaft mit zu gestalten.

20. März 1991 – An diesem Datum könnte man den erfolgten Startschuß für Dynamo 2.0 festmachen. Es ist der letzte europäische Auftritt der SG Dynamo Dresden, unser 98. Europacupspiel. Mit einer gewalttätigen, erniedrigenden Vorgeschichte aus dem klar verlorenen Hinspiel, live von der ARD übertragen in die Haushalte der wiedervereinigten Republik, geriet an diesem Tag alles außer Kontrolle. Gefühlt knapp eine Etage unter der Brüsseler Heyselkatastrophe. Und mit nachhaltiger (gesellschafts)politischer Komponente, durch welches dieses Ereignis bis zum heutigen Tag immer und immer wieder als medialer Joker für alle Unsitten rund um Fanverhalten in Deutschland auf die Redaktionstische deutscher Medienanstalten geknallt wird. Oder wie es ein weiser Mann aus Reihen der SGD mal sinngemäß formuliert hat: „An diesem Tag wurde ein Scheinwerfer über uns angeknipst, den bis heute niemand wieder ausgemacht hat…“ Dynamo Dresden hatte sich im bundesdeutschen Bewußtsein als das fußballerische Teufelswerk schlechthin verankert.

32 Jahre ist dies jetzt her, für die Dynamofans, welche diese Zeit bis zum heutigen Tag aktiv erlebten und nun anläßlich des 70 jährigen Jubiläums reflektieren, war dies eine Schußfahrt quer durch alle Gefühlswelten. Liebe und Haß, Demütigung und Triumph, Niedergeschlagenheit und Euphorie, Fremdscham und Stolz – welcher Liebende eines Vereins kann auf solch eine Palette des gesamten emotionalen Spektrums zurückblicken? Für viele von uns erfolgte dies, nachdem wir bereits in den 80ern durch an den gehassten Berliner Namensvetter, mit der Stasi als Träger, verschobenen Meisterschaften, gleichzeitig aber auch mit den drei triumphalen Pokalgewinnen gegen den BFC die Gefühlsachterbahn erlebten. Glorreichen Europacupauftritten u.a. gegen Partizan Belgrad, Zenit Leningrad, AS Rom, Malmö FF standen Enttäuschungen wie gegen Feyenord Rotterdam und Standard Lüttich und Demütigungen von Rapid Wien und dem ewigen Trauma Bayer Uerdingen entgegen. So emotionsgestählt und mit dem Erbanrecht auf Europapokal ging es in den Neunzigern selbstbewußt ans gesamtdeutsche Fußballwerk, welches sich Bundesliga nennt. Für den Dynamofan war es nur eine Frage der Zeit, wann der erste deutsche Meistertitel errungen wird…

Aber irgendwann wird jeder aus seinen Träumen zurück in die Realität geholt. Bei Dynamo enden erfahrungsgemäß solche Höhenflüge in harten Landungen. Nach den letzten beiden gewonnenen Meisterschaften 1989 und 1990 sowie der Qualifikation für die Bundesliga 1991 folgte „Belgrad“ und ein großer Aderlaß. Kirsten, Sammer, Pilz, Döschner, Trautmann, Gütschow, Stübner, Minge – ab der Saison 1992/93 stand keiner mehr für uns auf dem Platz. Die mageren Ablösesummen dank Sonnenkönigen und windigen Beratern verzockt, schlugen die kapitalistischen Mechanismen in all ihrer Brutalität zu. Und dabei hatte man sich politisch opportun mit sachsengrünem Wappen und der Umfirmierung von der (Sport)Gemeinschaft zum (1. Fußball) Club den neuen Machthabern vorsorglich angedient. Immerhin, der Name Dynamo wurde irgendwie gerettet. Ein hessischer Baulöwe, der bis zum Schluß unseren Vereinsnamen nicht richtig aussprechen konnte, als Retter und dann Totengräber, der uns neben Drittklassigkeit eine sportlich und wirtschaftliche Ruine hinterlies. Vom Elfmeterkrimi gegen Leverkusen („da steht der Russe, wie Lenin auf dem Roten Platz“) und der Trotzsaison „minus 4 – na und“ zum kollektiven Heulen nach dem Lizenzentzug und damit Zwangsabstieg 1995 beim letzten Bundesligaheimspiel. Parallel dazu eine Kommunalpolitik, jederzeit bereit, der Altlast Dynamo den Todesstoß zu versetzen. OB Wagner und der CDU Förderkreis des Dresdner Sportclubs um Arnold Vaatz, welche unsere Erfolgsgeschichte Dynamo auslöschen und durch fragwürdige Tradition ersetzen wollte. Zu diesem Zeitpunkt waren wir am Boden und dem Tode nah. Es traute sich nur keiner, uns den Fangschuß zu geben.

Stolz, Trotz, Loyalität und ein unbändiger Überlebenswille halfen uns, die kommenden Jahre zu überstehen. Rückblickend ist es auch einem Dr. Kölmel und seinem Spürsinn fürs Geschäftemachen zu verdanken, daß uns wirtschaftlich nicht das Licht ausgeknipst wurde, auch wenn wir uns erst 17 Jahre später aus seinem Vertragswerk befreien konnten. Hochengagierte Fans, die Etablierung der Ultrakultur im Jahr 2000 sorgten für meßbare Präsenz und Stimmung auf den Rängen und Gestaltung des Vereinslebens. Die sportliche Stabilität und eine Truppe auf dem Rasen, welche wieder Spaß macht, gab es dann ab 2001 mit Christoph Franke, welcher eine legendäre hungrige Truppe formte und auf die Oberliga losließ. Den DSC auch sportlich als Nummer auf dem Platz abgelöst (fantechnisch war das auch ansatzweise nie Thema), Sachsenpokalsieger beim legendären Ausflug nach Plauen 2002 und Aufstieg in die Drittklassigkeit. Zum 50. Geburtstag ging es mit dem Sonderzug nach Leverkusen zum Punktspiel gegen die Bayer 04 Amateure, 15 Monate später jubelten wir mit 40.000 Fans auf dem Altmarkt, nachdem wir erst zuhause gegen Neumünster und dann an historischer Stätte in Krefeld (remember 86 Uerdingen) für den Aufstieg in die zweite Bundesliga die Sau rauslassen konnten. Das sind die Momente, für die es sich lohnt, für diesen Verein sein Herzblut zu geben, ihn zu leben.

Zukunft Dynamo kämpfte um bessere Trainingsbedingungen für den Nachwuchs, Dynamo 5000 warb mit dem Ziel 5.000 Vereinsmitglieder um Mitgliedschaften im Verein (heute haben wir 25.000!) und Pro RHS kämpfte um eine moderne Spielstätte am Traditionsstandort. Und die Dritte, unterstützt vom Fanprojekt, erhob den Breitensport mit jährlichen Aufstiegsfeiern von der Stadtklasse bis zur Landesliga zum neuen Dynamokult und war identitätsstiftend. Das Ganze garniert mit saustarken und eindrucksvollen Choreografien und Aktionen der Ultras Dynamo. Was für fantastische Jahre, deren Erfolge besonders im Bereich der Infrastruktur (Nachwuchsleistungszentrum, Stadion und mitgliederstärkster Sportverein in Sachsen) uns heute eine Basis für kommende Erfolge bietet.

Sportlich ging es mit dem Fahrstuhl immer wieder hoch und runter zwischen zweiter und dritter Liga. Wenn man Dynamofans fragt, was wohl der sportlich eindrucksvollste Moment war, werden viele das Wunder von Dresden gegen Bayer Leverkusen im Pokal 2011 nennen. Spätestens seit diesem irren Spiel sollte das Trauma von Bayer Uerdingen Geschichte sein. Von der Fanszene her, haben wir uns in der Erstklassigkeit längst etabliert. Die Vereinsstruktur und die gelebte Vereinsdemokratie konnten uns zwar nicht immer vor neuen Sonnenkönigen, korrupten und manipulativen Gestalten und Wichtigtuern schützen, aber vor feindlicher Übernahme und einseitig finanzieller Abhängigkeit gegen den Verkauf unserer Werte und unseres Namens bewahren. Zum 60. Vereinsgeburtstag wurde mit Bussen, Bahn und Autos Union „überfallen“, im Herbst bei einer legendären Mitgliederversammlung ein Aufsichtsrat gewählt, welcher den Grundstein für nachhaltige finanzielle Sanierung legte. 2016 waren wir erstmalig seit den frühen 90ern schuldenfrei und schafften es, gemeinsam mit der Stadt, ein hochklassiges Trainingszentrum zu errichten.

Nun sind wir siebzig Jahre alt geworden. Ein Alter, in welchem nach dem Willen so mancher Politiker und Wirtschaftskapitäne der gemeine Deutsche künftig in Pension gehen soll. Falls er es überhaupt schafft, dieses Alter zu erreichen. Hätten wir mit 40 gedacht, daß Dynamo auch mit 70 nicht mehr auf europäischer Ebene spielt? Konnten wir zum 50. davon träumen, schon gut sechs Jahre später im wohl atmosphärischsten Fußballstadion Deutschlands zu spielen. War es zum 60. realistisch anzunehmen, daß wir, damals 8stellig verschuldet, bereits drei Jahre später schuldenfrei sein werden und daß einige Mitglieder der Fangemeinschaft Dynamo, mit welchen wir dieses Jubiläum damals im Sonderbus nach Berlin ausgelassen und freundschaftlich feierten, zehn Jahre später eine Unterwanderung der Fangemeinschaft durch eigene Fans fürchten? Von zwei weiteren weisen Männern stammen die Sprüche „Dresden ist anders“ und „Niemand ist größer als der Verein“. Hat man beides verinnerlicht, dann kann man sicher sein, daß in einem selbst das Dynamo-Gen schlummert. Wir von der IGSGD haben daran keinen Zweifel und werden auch im kommenden Jahrzehnt aktiv den Verein mitgestalten, um zu verhindern, daß wir in die Beliebigkeit abrutschen und daß sich unverdient Kräfte im Glanze des glorreichen und klangvollen Namens sonnen, oder sich gar des Vereins für eine eigene Agenda aneignen. In diesem Sinn, laßt uns unser Vereinsleben und den Verein heute feiern und reflektieren, verbunden mit einer Ansage aus der Feder der Onkelz:

Wo Genie und Wahnsinn sich verbinden, Worte nicht nach Lügen stinken. Gibt es noch ’nen andren Weg, der steinig ist, aber den es lohnt zu gehen. Wir ham‘ noch lange nicht, noch lange nicht genug.
Auf in ein neues Jahr, wir ham‘ noch lange nicht genug.